Die Sage vom Geldborn im Mehrbachtal

und vom Untergang der Gemeinde Obermehren im Dreißigjährigen Krieg.

Wer heute die ausgedehnten Wälder der Leuscheid nordwestlich von Weyerbusch durchstreift, findet in einer Talsenke ein ausgedehntes, waldumgebenes, versumpftes Wiesengelände. Hier soll einst das Dorf Obermehren gestanden haben.

Die Mehrbachquelle bildete den Mittelpunkt der Siedlung als Gemeindequelte für dreizehn Familien. Die Dorfbewohner lebten von ihrer Landwirtschaft und hauptsächlich vom Ertrag des Waldes. Zur Winterzeit fällten sie im großen Wald Holz, das sie mit dem Frühjahrshochwasser der Sieg bis Siegburg und Köln schafften. Ein Teil des Holzes wurde an Ort und Stelle zu Holzkohle gebrannt und an die Hüttenwerke im Siegerland geliefert. So herrschte in dem einsamen Walddörfchen einiger Wohlstand. Der Schöffe, der die Geschäfte leitete, sorgte dafür, daß der Reingewinn gleichmäßig nach dem Anteil an den Arbeitsleistungen auf die Familien verteilt und ein ansehnlicher Rest für schlechte Zeiten zurückgelegt wurde. In einem kupfernen Kessel, der sich in einer schweren eichenen Truhe im Hause des Schöffen – in dem dieser mit Frau und Tochter Annegrit (Anna Margarethe) wohnte – befand, wurde der Dorfschatz aufbewahrt.

Im großen Walde der Leuscheid wohnten abseits vom fleißigen Dorfe einige unstete, nicht gern gesehene Menschen, denen man die Namen Uhu und Lux beigelegt hatte. Der Uhu war ein ungeratener Sohn von Bauersleuten aus Kuchhausen. Seine Gestalt war gedrungen, der übermäßig dicke Kopf zeigte brandrote Haare, und selbst die Augen waren rötlich. Besonders gut konnte er den Ruf des Uhus nachahmen, was ihm zu seinem Namen verholfen hatte.

Im 16. Jahrhundert hatte der Herchener Scharfrichter, der sonst als Abdecker in der Leuscheid lebte, eine sechsköpfige Räuberbande gehängt. Ein kleines, etwa dreijähriges Mädchen, das zu dieser Bande gehörte, erbat er sich als Lohn aus, da er selbst keine Kinder hatte. Als das Kind heranwuchs, lernte es sehr rasch die Kräuter des Waldes kennen und sammeln und heilsame Getränke für Menschen und Tier herstellen.

Mit zwanzig Jahren heiratete sie den Sohn eines Korbmachers. Bald wurde ihnen ein Sohn geboren, der die Untugenden seiner Vorfahren in reichem Maße geerbt hatte. Listig und verschlagen streifte er im Walde umher, fing Vögel und Frösche und quälte sie zu Tode. Größer geworden, half er in der Abdeckerei. Doch am liebsten schlich er durch den Wald. Deshalb bekam er den Namen Lux, während seine Mutter allgemein die Hexe genannt wurde.

Auf dem Weyersbusch wurde wieder einmal die Birnbacher Kirmes gefeiert. Annegrit war mit ihrem Schatz, einem Werkhäuser Burschen, im Tanzsaal, wie alle Jungen und Alten. Die Musikanten spielten ihre Tänze, dazwischen sangen die Jungen ihre Lieder, und rechter Frohsinn herrschte. Da stand plötzlich der Uhu mitten im Saat. Mit abscheulichen Grimassen näherte er sich Annegrit. Den Werkhausener fauchte er nur an, doch der packte zu, griff sich den Uhu, und schon kamen alle Burschen und schlugen auf ihn ein. Endlich konnte der Uhu sich losreißen, und mit greulichen Verwünschungen entsprang er in den Wald, von wo man noch den dreimaligen Uhu-Ruf hörte. Die Kir mesfreude war dahin, und bald leerte sich der Tanzsaal.

Doch die Zeit läßt alles vergessen, das Leben geht seinen Gang. Annegrit und der Werkhausener waren verlobt, und im Winter machte der Bursche manchesmal den Weg durch den dunklen Wald nach Obermehren. Eines Abends, als er wieder seine Braut besuchen wollte, sorgte sich seine Mutter sehr und bat ihn, zu Hause zu bleiben. Doch der Bursche antwortete: „Ich werde mit meinem Knotenstock dreinschlagen, wenn mir einer zunahe kommt. An Unholde und böse Geister glaube ich nicht, ich glaube an Gott.“

Frohgemut machte er sich auf den Weg nach Obermehren. Er ahnte nichts Böses. Dort aber, wo der Weg durch den Urenbach (so heißt der Anfang des Mehrbaches) führt, stand in einer Buchenhecke der Uhu und schnitt Grimassen.

Rache wollte er nehmen für die Schläge, die man ihm am Kirmestag verabreicht hatte. Längst hatte er den Werkhausener auf dem hartgefrorenen Boden kommen gehört. Doch als er sich auf ihn stürzen wollte, packte ihn einer von hinten um die Kehle, so daß er nicht einmal schreien konnte.

Von alledem ahnte der Freiersmann nichts und ging an der Stelle vorbei. Da ließ der Angreifer den Uhu frei und gab sich zu erkennen, der Lux war es. Der Uhu hatte nämlich den Bach überschritten und war in das Jagdrevier des Lux übergewechselt. Die beiden Waldläufer einigten sich schnell über die Interessengrenze, doch dann fauchte der Uhu los, weil der Lux ihm die Gelegenheit zur Rache verpatzt hatte. Aber der Lux belehrte ihn, daß es besser sei, die Menschen immer wieder zu belästigen, sie zu quälen und in Furcht zu halten, als sie zu töten. Dann lud Lux den Uhu in seine Waldhütte ein.

Dort trafen sie auch die Hexe, die Mutter des Lux, an. Aus den Handlinien weissagte sie dem Uhu, daß er im Walde leben und untergehen werde und daß die Leute jener Gegend ihn noch lange nach seinem Tode fürchten würden. Die Drei saßen weiter zusammen und überlegten, wie sie den Menschen Schaden zufügen könnten.

In Obermehren war Hochzeit gewesen. Der Werkhausener hatte die Tochter des Schöffen geheiratet, und sie lebten glücklich und zufrieden. Als der Schöffe im Winter darauf starb, nahmen die Obermehrener den Schwiegersohn zum neuen Schöffen, denn er war fleißig und sparsam, und im Hause war alles für das Amt eingerichtet.

Immer öfter aber ließ der Uhu seine schauerlichen Rufe durch den Wald schallen. Die Menschen fürchteten ihn und hatten Angst vor kommendem Unheil.

Bald folgte die alte Schöffenfrau ihrem Manne in das Grab. Das Glück der jungen Frau war getrübt, weil sie kein Kind bekam. Ihr Gesicht wurde herb und vergrämt, sie schloß sich immer mehr von den Dorfgenossen ab und erschrak jedesmal, wenn sie vom Uhu erzählen hörte.

Eines Nachts rief der Uhu ganz nahe bei ihrem Hause. Am nächsten Morgen lag des Schöffen beste Kuh tot im Stall. Die verendete Kuh wurde auf den Strombergar Schindanger gebracht, und der Lux besorgte das Abdecken. Im Magen der Kuh fand man ein Bündel Wolfsmilch. Das hatte der Uhu der Kuh nachts eingegeben.

Eines Tages begegnete der Schöffe der alten Hexe, die sprach ihn an: „Niemand kann seinem Schicksal entgehen, dreizehn Familien wohnen in Obermehren, das bedeutet Unglück.“

Einen neuen Förster hatte der Graf zu Hachenburg in Weyerbusch bestallt, der sollte Uhu, dem Wilddieb, zuleiberücken. Er traf auch den Uhu eines Nachts im Walde. Ein wüstes Handgemenge entstand, bei dem der Forstmann schwer verletzt wurde, so daß er Wochen benötigte, um wieder gesund zu werden.

Bei der Grummeternte gingen dem Schöffen wieder zwei gute Kühe ein, und wieder hatten sie Wolfsmilch im Magen. Der Schöffe entbrannte vor Wut, wenn er an Uhu und Lux dachte oder von ihnen erzählen hörte. Doch das Unglück, das dem Dorfe drohte, konnte er nicht abwenden, es kam von anderer Seite.

Fuhrleute, die Holzkohlen ins Siegerland gefahren hatten, brachten Nachrichten mit von den Greueltaten der Tillyschen und der Schweden. Da ließ der Schöffe die Dorfbewohner zusammenkommen, um ihnen das zurückgelegte Geld auszuhändigen. Doch die Einwohner hielten es für besser und sicherer, das Geld beim Schöffen zu belassen, zumal sie jetzt ja auch nichts damit anfangen konnten.

Der Sommer zog ins Land und brachte eine Dürre mit, wie kaum einmal zuvor. Selbst in dem einst so feuchten und kühlen Wald ließen die Bäume die Blätter hängen, und das Gras auf den Weiden verdorrte. Von Tag zu Tag wurde die Hitze unerträglicher für Mensch und Vieh. Eines Morgens, als die Dorfbewohner beieinander standen und über die durch das Wetter verursachte Not sprachen, dröhnte von Leuscheid ein mächtiger Knall herüber. Die Tillyschen oder die Schweden waren im Anmarsch.

Die Leute rannten in ihre Häuser, packten das Notwendigste zusammen und flüchteten in die wilde Leuscheid. Obwohl dort gute Versteckmöglichkeiten waren, in die kein Feind einzudringen wagte, hat man keinen von ihnen wiedergesehen und nie wieder von ihnen gehört. Im Dorf ging das Leben weiter. Zwar war nicht von allen Familien jemand zurückgeblieben, doch wollte es das Schicksal, daß nur noch dreizehn Menschen im Dorfe waren. Die Sonne dörrte immer weiter das Land aus. Es ging kein Lüftchen. Die Zurückgebliebenen dachten an die Geflüchteten sowie an deren und ihr eigenes Schicksal. Bei seinem Haus saß unter einem Weidenbaum der Schöffe und lötete den Deckel auf den Kupferkessel, der bis oben an mit Geld gefüllt war. Der Schöffe hatte als erster wieder seinen Lebensmut gefunden und war bereit, allen kommenden Gefahren zu trotzen.

Nach Sonnenuntergang stieg in Richtung Weyerbusch eine schwarze Wolkenwand am Himmel hoch, und ein Donnern hub an, das immer näher kam. Dort konnten doch die Tillyschen noch nicht sein, das war ein Gewitter. Das bedeutete Regen. Endlich Regen, den man sich so lange gewünscht hatte. Doch ehe der Regen Obermehren erreichte, raste ein Wirbelsturm durch den Wald, entwurzelte Bäume und schuf ein Chaos. Und dann entlud sich das Gewitter. Schlag auf Schlag und Blitz auf Blitz. Der ganze Talkessel hallte wider vom Brausen des Sturmes und Krachen des Donners und war voller sich jagender Blitze. Und dann, ein Blitz, ein Krachen, und aus einem der Häuser schoß eine Feuergarbe hervor. Das brannte wie Zunder nach all der Trockenheit. Schon stand ein weiteres Haus in Flammen. Die Dreizehn versuchten verzweifelt, das Feuer zu löschen. Das Wasser in dem versiegenden Quell reichte bei weitem nicht, schon brannte ein drittes Haus. Doch urplötzlich ließ der Sturm nach, und mit ungeheuren Mengen stürzte der Regen nieder. Wasser, das man gewünscht, erbeten, erhofft hatte, nun kam es.

Kaum war das Sauer gelöscht, da brach eine neue, die letzte Not über das Dorf herein.

Um sich von den anstrengenden Stunden der Nacht zu erholen und sich über die nächsten Arbeiten auszusprechen, saß man im Schöffenhaus zusammen. Durchs Fenster rauschte das Wasser, das nun in Bächen von den Bergen in die Mulde strömte. Der Boden konnte die Mengen nicht aufnehmen, und der werdende Mehrbach konnte es in seinem engen Bett nicht davon führen. Daraus kam die neue Not: Einst hatten die Vorfahren am Beginn der Talsenke eine Schutzhacke gepflanzt, sie sollte vor den Winterstürmen schützen, Hier setzte sich nun altes Holz und Geröll, welches die Wassermassen mit sich führten, fast und baute einen Wall, der das Wasser nur schwer ablaufen ließ. Bald standen die nächstgelegenen Häuser im Wasser, und das stieg und stieg.

Derweil saßen die Einwohner im Schöffenhaus. Sie berieten, und mancher schlief wohl auch ein Stück. Plötzlich spielte das Wasser um die Beine, Schnell gingen sie in den Oberstock. Als sie aus dem Fenster sahen, blieb ihnen fast das Herz stehen. Mitten in einem tiefen See standen ihre Häuser. Und noch immer rauschte der Regen, rauschte und rauschte auf die Erde nieder.

Da, schwimmt dort nicht ein Mensch im Wasser? Ehe sie es richtig ausmachen konnten, hörten sie jemand im Haus, und schon stand der Uhu mitten unter ihnen. Als er nach dem Kessel greifen wollte, warf der Schöffe diesen im hohen Bogen in die Flut. Genau dorthin, wo der Brunnen sein mußte. Da stürzte sich der Uhu auf seinen alten Feind, und ehe einer zu Hilfe eilen konnte, drängten beide zum Fenster. Es schien, als bleibe der Schöffe Sieger im Zweikampf. Schon hob er den Uhu hinaus, Doch diesem gelang es, den Schöffen mitzureißen. Man glaubte beide ertrunken, da hörte man den dreifachen Uhuschrei. Ein Zeichen, daß der Waldschrat wieder einmal überlebt hatte. Den Schöffen aber fanden sie, als es hell wurde, tot an der Schutzhecke.

Die Tillyschen hatten längst von dem reichen Dorf gehört und suchten einen, der sie hinführen konnte. Das konnte der Lux. Kurz nachdem es aufgehört hatte zu regnen, führte er eine Horde Soldaten durch die Leuscheid zur Quelle. Die letzten elf Menschen – Annegrit hatte sich in dem Wasser das Leben genommen, nachdem der Schöffe tot war – konnten noch rechtzeitig aus Obermehren fliehen. Als die Gruppe das vom Unwetter verwüstete Dorf fand und sah, das sie hier kei ne Beute machen konnten, erhängten sie den Lux an der Weide, unter der einst der Schöffe das Gold in den Kessel verlötet hatte. Hier fand ihn die Hexe, seine Mutter, nach einiger Zeit. Der Schreck über sein Ende ließ sie entseelt neben dem Baum zusammenbrechen.

Die nach Werkhausen geflüchteten letzten Elf wollten, nachdem das Kriegsgeschehen über das Land hinweggerollt war, den Kessel mit dem Geld bergen. Als sie aber in ihr altes Dorf kamen, packte sie das Grauen. Einer schrie laut auf. Da flog aus dem Weidenbaum neben dem Brunnen ein Uhu, der dort geschlafen hat-te. Nun traute sich niemand mehr an den Brunnen, und sie zogen ohne Geld davon. Ihren Kindern und Kindeskindern erzählten sie die schauerlichen Geschichten von Uhu und Lux, und bis in den Anfang dieses Jahrhunderts kannten sie noch ein Lied:

Der Lux hängt jammernd im Weidenbaum,
Der Uhu klagt in den Asten,
Die Hexe sitzt im Brunnen, im engsten Raum,
Und klagt um den Lux, ihren Besten,
Die Schöffenfrau läuft durch den Wald
Und stürzt sich in den Weiher.
Wer’s sieht, dem läuft’s über den Rücken kalt,

Beim Geldborn, da ist’s nicht geheuer!
Was damals der Blitz und die Flut verschont,
Das brannten die Schweden nieder.
Die Menschen, die einst dort glücklich gewohnt,
Die flüchteten und kehrten nicht wieder.
Jetzt haust dort im Wald ein furchtbarer Wicht;
Der hasset die Menschen und scheuet das Licht;
Sein Gefieder, das glänzt wie Feuer.
Beim Geldborn, da ist’s nicht geheuer!

Ein Jüngling bat ein Mädchen hold;
Sie gingen zusammen zum Bronnen.
Die Hexe, die zeigt ihnen Kessel mit Gold,
Da war die Liebe zerronnen.
Der gräßliche Uhu begleit‘ sie zurück
Und trennte sie beide, sie hatten kein Glück,
Ihr Leben ist freudlos zerronnen.
Das machte der Gang zu dem Bronnen.

Heute ist die einst rund 50 Morgen große Flur fast ganz wieder vom Wald verschlungen, dem sie einmal in mühseliger Arbeit entrissen worden war. Man weiß noch immer, daß dort einst ein Wohnplatz war und nennt ihn Obermehren. Doch keine Urkunde hat den Namen bewahrt. Nichts, außer der Sage, kündet von ihm. Hieß es einmal Obermehren?